Jahreswende 2021 / 2022

1. Lesung: Numeri 6,22-27 / 2. Lesung: Galater 4,4-7 / Evangelium:Lukas 2,16-21


Schauen Sie mal, was ich mitgebracht habe: Ein dickes Buch über Merfeld mit knapp 600 Seiten, für einige Tage ausgeliehen von einem Merfelder. Es handelt sich nur um einen von demnächst 14 Bänden der „Ortsfamilienbücher Dülmen“, ein beispielloses Recherche- und Dokumentationsprojekt, das ein Josef Schnieder seit etlichen Jahren betreibt – „ein umfangreiches Vorhaben, was niemals fertig wird“, schreibt er im Vorwort. Schon jetzt sind aus historischen Kirchbüchern und unzähligen anderen Unterlagen über 85.000 Familien zusammengetragen, die über Jahrhunderte in Dülmen und den Ortsteilen gelebt haben – es sind dies momentan weit über 300.000 Namen!


Liebe Schwestern und Brüder!

Auch wenn sich die Schreibweise der Namen immer wieder geändert hat oder Familiennamen komplett gewechselt wurden: Der Name gehört bis heute wesentlich zur Identität eines Menschen. Natürlich kann man auch mit Ziffern oder einem Strichcode oder mit anonymen Daten jemanden identifizieren – sich aber wohl kaum mit ihm „von Mensch zu Mensch“ austauschen. Zur Beziehungsfähigkeit von uns Menschen gehört, dass wir ansprechbar sind.


Es gibt in den biblischen Büchern unzählige Anekdoten, die sich um die Benennung und Umbenennung von Menschen drehen. Denn wie gesagt: Der Name hat mit Identität und Beziehung zu tun – gegenüber mir selbst, gegenüber den Mitmenschen, gegenüber Gott: „Ihre Namen stehen im Buch des Lebens“, sagt der hl. Paulus einmal. (Vgl. Phil 4,3)


Zu Beginn einer Tauffeier fragt der Priester (oder Diakon) die Eltern: „Welchen Namen haben Sie Ihrem Kind gegeben?“ Den Namen eines Menschen zu vergessen, kann peinlich sein. Den Namen eines Menschen zu verhöhnen, ist unmenschlich. Und einem Kind einen Namen zu geben, den es sein Leben lang umständlich buchstabieren oder erklären muss, bleibt nicht ohne Folgen für die persönliche Entwicklung.


„Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus“ – so hören wir im heutigen Evangelium vom Oktavtag von Weihnachten. Das ist nicht nebensächlich, das ist wichtig: Das kleine Menschenkind, in dem sich Gott der Menschheit mitteilt, wird fortan den Namen „Jesus“ tragen – „den der Engel genannt hatte, noch ehe das Kind im Schoß seiner Mutter empfangen wurde.“


Der alttestamentliche Gottesname „Jahwe“ – „Ich bin da“ – wird quasi fortgeschrieben, wird präzisiert. Denn „Jesus“ oder „Joshua“ meint: „Gott rettet“ oder „Gott befreit“. Schon im Alten Bund, so hörten wir in der (ersten) Lesung, sollen Aaron und seine Söhne „meinen Namen auf die Israeliten legen, und ich werde sie segnen“. Dort hieß es, dass Gott so jedem Israeliten „sein Angesicht zuwenden werde“.


Seit der Weihnachtsnacht wendet Gott uns sein Angesicht zu durch ein menschliches Gesicht! Seit dem Wunder von Bethlehem lässt er uns nicht mehr nur „von oben herab“ seinen Namen wissen, sondern ist als unser Bruder noch viel unmittelbarer „ansprechbar“.


„Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus.“ Ja, der Name ist ein Stück menschlicher Identität. Und doch ist der Name nur ein erster Zugang; niemals erfasst man einen Menschen total. Auch Maria, so legt das heutige Evangelium nahe, wird mit all den anderen über die Hirten und darüber gestaunt haben, „was ihnen über dieses Kind gesagt worden war“. Und: „Sie bewahrte alles in ihrem Herzen und dachte darüber nach.“ Maria ermuntert uns, dass wir uns im Nachdenken üben – auch über den Namen „Jesus“!


Denn dieser uns Christen so vertraute Name ist ja nicht eine irgendwie griffige Formel oder ein simpler Slogan. Auch und gerade der Name „Jesus“ verlangt, dass wir bewusst und respektvoll in eine Beziehung zu ihm treten – dass wir diesen Namen mit Selbstachtung „auf uns legen“ lassen; dass wir uns bewusst mit ihm umgeben und in einen Austausch treten.


„Gott rettet“ und „Gott befreit“: Das zu hören ist doch so wohltuend, wenn wir ein altes Jahr hinter uns lassen und in ein neues Jahr hineingehen! Denn wir sind nicht verdammt, für immer verstrickt zu bleiben in all den Missverständnissen und in all dem Unvermögen und in all den Enttäuschungen, die es womöglich (und ganz bestimmt!) im alten Jahr gab. Die Gemeinschaft mit dem, der „sein Angesicht leuchten lässt“ über uns, befreit uns von dem Zwang, uns endlos im Selbstmitleid oder genüsslich in der Anklage der Mitmenschen zu suhlen. Und auch künftig, im neuen Jahr, will uns die gelebte Gemeinschaft mit Jesus immer wieder davor bewahren und „retten“, nur ein Spielball der Stimmungen und Meinungen, der Stimmungsmache und Panikmache zu werden, die unsere Zeit immer neu und fest im Griff hält.


Die Beziehung zu Gott, die Freundschaft mit Jesus schenkt Freiheit und Gelassenheit! Und umgekehrt: Eine Gesellschaft, die sich von Gott lossagt und nur noch in sich selbst verliebt ist, wird dadurch nicht weitherziger und froher, nicht zuversichtlicher und dankbarer, nicht geduldiger und gelassener.


„Ich möchte die Geschichte von Familien schreiben, die sonst nicht im Blickfeld stehen!“ – so sagte der eingangs erwähnte Josef Schnieder bei einem Vortrag in Merfeld über sein genealogisches Projekt. Uns „in den Blick nehmen“ und „Familiengeschichte schreiben“ – das will auch Gott mit uns! Wenn die (zweite) Lesung die „Sohnschaft“ der Getauften betont, dann ja nicht zur Unterscheidung von „Tochter“, sondern um von den „Sklaven“ und den Unfreien zu unterscheiden: Denn im damaligen Rechtsverständnis war nur der „Sohn“ in besonderer Weise privilegiert und autorisiert: „Daher bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn; bist du aber Sohn, dann auch Erbe, Erbe durch Gott“, so formuliert Paulus.


Ich wünsche uns, die wir durch Jesus Christus zur „Familie“ Gottes gehören und einen renommierten Namen tragen, – ich wünsche uns für das neue Jahr ein „reiches Erbe“: unter Gottes Segen uns ermöglicht; durch wertvolle Begegnungen mit den Mitmenschen zusammengetragen; durch bereichernde Erfahrungen angehäuft!


Amen.